22. Dezember 2016
Es ist Zeit für eine bessere Lösung
Die Gastautoren schreiten den Kreis des Rechts auf Selbstbestimmung in der NZZ vom 17. Dezember 2016, kompetent und allgemeinverständlich aus. Es braucht eine Regelung, ein Recht, welches der Situation jener, die ihr Leben als erfüllt empfinden, besser gerecht wird. Die demografische Entwicklung und die Haltung eines grossen Teils der Bevölkerung fordert vom Gesetzgeber eine verfassungskonforme, praktikable Lösung.
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Es ist Zeit für eine bessere Lösung
Gastkommentar von Ebo Aebischer, Reto Obrist und Christoph Zenger
NZZ 17.12.2016, 05:30 Uhr
Suizide sind ein sehr emotionales Thema. Sie werden aus religiösen oder weltanschaulichen Gründen geächtet und sind für die Zurückbleibenden ein traumatisierendes, mit Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen verbundenes Ereignis. Der begleitete Freitod (assistierter Suizid, AS) wird hingegen von einem Grossteil der Bevölkerung akzeptiert und kann unter bestimmten Voraussetzungen von Sterbehilfeorganisationen und einzelnen Ärzten ermöglicht werden.
Die gewaltsamen Suizide haben – mit Ausnahme der Schienen-Suizide – in den letzten 20 Jahren abgenommen. Gleichzeitig nahmen die begleiteten Suizide zu. 2015 haben die Sterbehilfeorganisationen (SHO) mit etwa 125 000 Mitgliedern 999 Menschen in den Tod begleitet. Ungefähr drei Viertel unserer Bevölkerung begrüssen die Möglichkeit des straflosen AS. Auch Ärzte tun dies mehrheitlich, allerdings würden nur knapp die Hälfte selbst aktiv mitwirken. Die humanste akzeptierte Methode für einen raschen und schmerzlosen Tod ist die Einnahme von Natriumpentobarbital (NaP), alternativ bleiben nur gewaltsame Methoden wie Erhängen, Erschiessen, Sich-überfahren-Lassen.
«Recht auf den eigenen Tod» Das Leben jedes Menschen ist verfassungsrechtlich geschützt. An eine Grenze stösst dieser Schutz, wenn ein urteilsfähiger Mensch sein eigenes Leben beenden will. Seit der Aufklärung gilt in Kontinentaleuropa nur die Tötung eines anderen Menschen als strafbar. Suizid und Suizidversuch sind «unverboten» und nicht strafbar, ebenso wie die Beteiligung von Dritten. Nur die Suizidhilfe «aus selbstsüchtigen Beweggründen» erklärt Art. 115 des Strafgesetzbuchs als strafbar.
Das für die Suizidhilfe verwendete NaP wird als Arzneimittel eingeordnet und ist nur auf ärztliches Rezept erhältlich. Dabei müssen «die anerkannten Regeln der medizinischen und pharmazeutischen Wissenschaften beachtet werden» und der Gesundheitszustand des Patienten bekannt sein (Art. 26 Heilmittelgesetz, HMG). Die Standesregeln der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften (SAMW) beschränken die Verschreibung von NaP auf terminal Kranke. Sie verbieten damit die Rezeptausstellung für die Suizidhilfe bei nicht terminal Kranken, obwohl diese Hilfe rechtlich erlaubt ist. Und selbst die Suizidhilfe für terminal Kranke sei «nicht Teil der ärztlichen Tätigkeit», sondern der persönlichen Gewissensentscheidung des Arztes überlassen.
Das Bundesgericht hat gestützt auf die Bundesverfassung (BV) und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) das Recht jedes Menschen anerkannt, «über Art und Zeitpunkt der Beendigung des eigenen Lebens zu entscheiden». Das «Recht auf den eigenen Tod» verleihe dem Einzelnen aber keinen Anspruch auf Beihilfe zum Suizid durch den Staat oder Dritte. Das Gericht behandelt also einen Verzicht auf die Rezeptpflicht für NaP als staatliche Leistung anstatt, was plausibel wäre, als Vermeidung eines Eingriffs in das Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Die Folge ist ein staatlich ignorierter Zwang zum Weiterleben.
Voraussetzung für alle rechtsgültigen Geschäfte und Entscheidungen (auch bei Behandlungsmassnahmen) ist die Urteilsfähigkeit. Erwachsene Personen gelten nach schweizerischem Recht als urteilsfähig, es sei denn, es sprächen im Einzelfall konkrete Gründe (z. B. Kindesalter, geistige Behinderung usw.) für eine Urteilsunfähigkeit. Die ärztlichen Standesregeln verkehren diese gesetzliche Regelung in ihr Gegenteil; denn sie gebieten dem verschreibenden Arzt, im konkreten Fall die Urteilsfähigkeit zu prüfen. Da sich diese nicht «objektiv» feststellen lässt, kann er ein Rezept für NaP bei diesbezüglichen Zweifeln verweigern. Nur mit ärztlich bescheinigter Urteilsfähigkeit bleibt demnach dem terminal kranken Sterbewilligen die Hoffnung, als Mitglied einer SHO einen wohlüberlegten und dauerhaften, autonomen Entscheid umsetzen zu können.
Interessen der Ärzteschaft
Die Standesregeln dienen primär den Interessen der Ärzteschaft. Dass sie das Selbstbestimmungsrecht Suizidwilliger einschränken, ergibt sich aus dem Gesagten. Sie bevormunden aber auch die Ärzte in ihrem ureigensten Tätigkeitsbereich, nämlich dem Patienten zu helfen, egal wie alt oder krank er ist. Dabei sieht das kürzlich vorgestellte Positionspapier der Ärztegesellschaft FMH eigentlich vor, dass «das gesundheitliche Wohl und das Selbstbestimmungsrecht der Patientin den entscheidenden Massstab ärztlichen Handelns bilden» soll. Sollen dies nicht Lippenbekenntnisse bleiben, ist es an der Zeit, dass FMH und SAMW dieses Selbstbestimmungsrecht auch beim AS anerkennen und auf einschränkende Richtlinien verzichten.
Bei der Beurteilung der Urteilsfähigkeit kann es auch zu moralischen und finanziellen Interessenkonflikten kommen, was bei Gästen in Heimen und Palliativstationen offensichtlich ist. Doch die dort geläufige Freitodverhinderung gegen den Willen der urteilsfähigen Person wird oft kaum als moralisch oder rechtlich fragwürdig empfunden. So kommt es entweder weiterhin zu einsamen, gewaltsamen Suiziden, oder es folgt ein jahrelanges Vegetieren mit entsprechenden Kosten – oder gemäss einem Leserbrief in der NZZ: «. . . der Tod kommt einfach 200 000 Franken später».
Probleme in der Durchführung eines AS sind durch die oft ambivalente Haltung der Ärzteschaft mitbedingt. Ärzte verinnerlichen das Prinzip des «primum nil nocere» [primum nil nocere, sedundum cavere, tertium sanare / erstens nicht schaden, zweitens vorsichtig sein, drittens heilen] und die Bekämpfung von Krankheit und Tod. Dem steht das Bedürfnis weiter Teile der Bevölkerung nach der Möglichkeit eines AS diametral entgegen.
Probleme in der Durchführung eines AS sind durch die oft ambivalente Haltung der Ärzteschaft mitbedingt. Ärzte verinnerlichen das Prinzip des «primum nil nocere» und die Bekämpfung von Krankheit und Tod. Dem steht das Bedürfnis weiter Teile der Bevölkerung nach der Möglichkeit eines AS diametral entgegen. Die steigenden Mitgliederzahlen der SHO lassen vermuten, dass viele Betagte – auch in Altersheimen und Palliativabteilungen – eine einfache Möglichkeit zum AS begrüssen würden. Deshalb ist dringend auf eine akzeptable und praktikable Lösung hinzuarbeiten.
Zu diskutieren sind – neben vom Patienten akzeptierten palliativmedizinischen Zugängen – drei Lösungen:
Erstens müssen die SAMW-Regeln überarbeitet werden. Sie sollten die rechtlichen Möglichkeiten eines AS nicht weiter einengen, sondern der Ärzteschaft brauchbare und pragmatische Richtlinien an die Hand geben, die das Selbstbestimmungsrecht des Patienten akzeptieren. Wenn die SAMW das Verschreiben von NaP und den eventuellen Beistand beim Suizid auf terminal Kranke beschränkt und aus dem Kreis ärztlicher Aufgaben ausschliesst, stellt sie Standesinteressen über das Selbstbestimmungsrecht der Patienten.
Zweitens würde eine Teilung der Aufgaben das mögliche ethische Dilemma für den Arzt vermeiden: Autorisierte Personen, die nicht nur, aber auch Ärzte sein können, würden bei Zweifeln die Urteilsfähigkeit eines Suizidwilligen beurteilen und feststellen, ob sein Entschluss wohlüberlegt und dauerhaft ist. Ein «nihil obstat» [es steht nichts entgegen]einer solchen Person wäre die Bedingung für die Abgabe von NaP durch eine Amtsstelle, z. B. den kantonsärztlichen Dienst. Hausarzt oder SHO würden weiterhin eine wichtige Rolle spielen.
Drittens: Am klarsten würden die erwähnten Probleme jedoch durch «Entmedizinalisierung» des NaP-Bezuges geregelt. Die Abgabe von NaP würde dabei durch Apotheker erfolgen. Die rechtliche Möglichkeit dazu liesse sich durch eine entsprechende Interpretation oder geringfügige Anpassung des Heilmittelgesetzes (Art. 24) schaffen, wonach diese Substanzen «in begründeten Ausnahmefällen» auch ohne ärztliche Verschreibung abgegeben werden. Dem immer erforderlichen Nachweis der gefestigten Haltung und des wohlüberlegten autonomen und dauerhaften Entschlusses könnte durch die Einhaltung einer Bedenkzeit Nachachtung verschafft werden. Zur Vermeidung von Missbrauch würde das NaP nach Ablauf des festgelegten Zeitraumes (z. B. einem halben Jahr) einem Sterbebegleiter einer SHO oder einem Beamten ausgehändigt, welcher die Einnahme des NaP überwachen würde.
Stoss an Legitimationsgrenzen
Wie Suizide in geschlossenen Anstalten zeigen, ist ihre vollständige Verhinderung illusorisch. Präventionsanstrengungen führen zur Verlagerung auf andere gewaltsame Tötungsmittel, solange der Zugang zu gewaltlosen Suizidmöglichkeiten wie NaP versperrt ist. Die Verhinderung von Suiziden stösst aber auch an Legitimationsgrenzen. Den «Hungerstreik» urteilsfähiger Personen durch Zwang zu durchbrechen, führt zum Vorwurf eines schweren Eingriffs in die persönliche Freiheit oder gar der Folter. Wir brauchen eine Regelung, welche der Situation von Suizidwilligen und ihres Umfeldes besser gerecht wird. Die demografische Entwicklung und die Haltung eines grossen Teils der Bevölkerung fordert vom Gesetzgeber eine verfassungskonforme, praktikable Regelung.
Ebo Aebischer-Crettol war Beauftragter der evangelischen Kirche für die Begleitung von Hinterbliebenen nach Suizid und Gründer der Selbsthilfeorganisation Refugium; Reto Obrist war onkologischer Chefarzt im Wallis und Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für medizinische Onkologie; Christoph Zenger ist Direktor des Zentrums für Gesundheitsrecht und Management der Universität Bern, er war u. a. Vorstandsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Biomedizinische Ethik.