27. Februar 2020
Entscheid des deutschen Bundesverfassungsgericht
Wir bringen für die Mitglieder von ERAS eine Kopie des Artikels aus der NZZ
Bekenntnis zum selbstbestimmten Sterben
Nach der Entscheidung des deutschen Bundesverfassungsgerichts ist die geschäftsmässige Hilfe zur Selbsttötung künftig möglich.
Das Bundesverfassungsgericht hat eine deutliche Entscheidung getroffen: Das 2015 eingeführte Verbot geschäftsmässiger Sterbehilfe ist verfassungswidrig. Es verstösst gegen das Grundgesetz, weil es den assistierten Suizid faktisch verunmöglicht. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht, so argumentieren die Verfassungsrichter, umfasse auch ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. «Dieses Recht schliesst die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und dabei auch Angebote von Dritten in Anspruch zu nehmen», sagte Gerichtspräsident Andreas Vosskuhle am Mittwoch in Karlsruhe.
Der Gesetzgeber habe aber «ein breites Spektrum an Möglichkeiten», die Suizidhilfe zu regulieren, sagt Vosskuhle. Die Hilfe dürfe aber nicht davon abhängig gemacht werden, ob beispielsweise eine unheilbare Krankheit vorliege. Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben bestehe in jeder Lebensphase eines Menschen. «Wir mögen seinen Entschluss bedauern, wir dürfen alles versuchen, ihn umzustimmen, wir müssen seine freie Entscheidung aber in letzter Konsequenz akzeptieren.»
Schwerkranke klagten
Der Strafrechtsparagraf 217 stellte die sogenannte geschäftsmässige Hilfe zur Selbsttötung unter Strafe. Ärzten drohte eine Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren. Im Einzelfall war die Hilfe beim Suizid, zum Beispiel durch Überlassen tödlich wirkender Medikamente, nicht strafbar. Es ging darum, die wiederholte Suizidhilfe durch einen Arzt oder durch in Vereinen organisierte Sterbehelfer zu unterbinden. Schwerkranke Menschen, Ärzte und Sterbehilfevereine hatten gegen dieses Gesetz Verfassungsbeschwerde eingereicht, weil sie sich in ihrem Persönlichkeitsrecht und ihrer Berufsfreiheit verletzt sahen.
In der Schweiz ist der assistierte Suizid erlaubt. Im Land existiert etwa ein halbes Dutzend Sterbehilfeorganisationen, die grösste ist der Verein Exit. An zweiter Stelle folgt die Organisation Dignitas, die einen Partnerverein in Deutschland hat. Das Angebot von Dignitas haben vergangenes Jahr 85 Deutsche genutzt. Seit 1998 hat der Verein 1322 Freitodbegleitungen von deutschen Staatsbürgern dokumentiert.
Die rechtliche Regelung in der Schweiz ist liberal, aber streng. Die Person muss urteilsfähig sein, was es vielen psychisch Kranken unmöglich macht, ihrem Leben auf diesem Weg ein Ende zu setzen. Der Sterbewunsch muss ausserdem ohne äusseren Druck entstanden, gut überlegt und dauerhaft sein. Der letzte Akt, der zum Tod führt, muss von der betreffenden Person selbst ausgeführt werden, und die Beweggründe des Helfers dürfen nicht selbstsüchtig sein.
Die Meinungen sind gespalten
Die Debatte um die Sterbehilfe in Deutschland verläuft kontrovers. Das zeigen auch die Reaktionen auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Hagen Reinhold, Bundestagsabgeordneter der FDP, freut sich. «Jetzt ist der Weg frei für ein liberales Sterbehilfegesetz», schrieb er am Mittwoch auf Twitter. Für Katrin Helling-Plahr, ebenfalls Bundestagsabgeordnete der FDP, ist das Urteil ein gutes Zeichen, aber noch nicht ausreichend. «Wir brauchen ein Sterbehilfegesetz mit klaren Regeln, unter welchen Voraussetzungen Hilfe zur Selbsttötung in Anspruch genommen oder geleistet werden darf.»
Auch Katarina Barley (SPD) lobte die Entscheidung der Karlsruher Richter auf Twitter. «Wir haben doch ein wirklich weises Bundesverfassungsgericht», schrieb die frühere Bundesjustizministerin und heutige Vizepräsidentin des EU-Parlaments. «Menschen haben das Recht, nicht mehr leben zu wollen. Und damit nicht alleingelassen zu werden.»
Die SPD im Bundestag sieht jetzt Gesundheitsminister Jens Spahn in der Pflicht. Er müsse nun seinen Widerstand gegen die Abgabe der für die Sterbehilfe notwendigen Medikamente aufgeben, sagte Fraktionsvize Bärbel Bas. Auch die Vereine Dignitas Deutschland und Dignitas Schweiz gehen davon aus, dass dieses Urteil für Gesundheitsminister Jens Spahn richtungsweisend sein müsse. Die seit 2015 geltende Gesetzgebung zur Bevormundung deutscher Staatsbürger am Lebensende sei mit dem Urteil endgültig gescheitert. Es ginge jetzt um das «Wie» einer neuen gesetzlichen Regelung.
Der Vorsitzende des Vereins Sterbehilfe Deutschland und frühere Hamburger Justizsenator Roger Kusch brachte ebenfalls seine Freude über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Ausdruck. Nach so langer Wartezeit sei es ein wunderbarer Tag sowohl für den Verein als auch für seine Mitglieder: «Wir sind wieder in einem säkularen Rechtsstaat gelandet.»
Kusch kündigte an, dass sein Verein nun wieder zu der Praxis zurückkehren werde, die bis zur Einführung des jetzt für nichtig erklärten, Paragrafen 217 des Strafgesetzbuches möglich gewesen sei. «Wir können wieder genauso Sterbehilfe leisten wie bis zum November 2015. Wir haben zu 100 Prozent gewonnen, ohne Einschränkung.» Der Freude schloss sich auch der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben, Dieter Birnbacher, an. «Das ist ein grosser Tag für die Schwerkranken in Deutschland, die schon lange auf ein solches Signal warten.» Die Regelung der Sterbehilfe in Deutschland müsse nun rasch auf die politische Agenda, sagte Birnbacher.
Harsche Kritik der Kirchen
Die Kirchen üben harsche Kritik am Karlsruher Urteil. In einer gemeinsamen Erklärung der Evangelischen Kirche und der katholischen Deutschen Bischofskonferenz heisst es: «Dieses Urteil stellt einen Einschnitt in unsere auf Bejahung und Förderung des Lebens ausgerichtete Kultur dar.» Es sei zu befürchten, dass die Zulassung organisierter Angebote der Selbsttötung alte oder kranke Menschen auf subtile Weise unter Druck setzen könne, von derartigen Angeboten Gebrauch zu machen.
Heftige Kritik kommt ausserdem von Thomas Sitte, Chef der Deutschen Palliativstiftung. «Jetzt wird die Erleichterung der Selbsttötung für Kranke und Lebensmüde zur normalen Dienstleistung», sagte er. Der Schutz der Schwächsten käme zu kurz. Wer Sterbehilfe erlaube, mache über kurz oder lang Sterben zur Pflicht.
Auch die Diakonie befürchtet nach dem Urteil Konsequenzen, deren Folgen nicht abschätzbar seien. Alte und kranke Menschen dürften angesichts ihres Leidens «keinesfalls als Last für die Gesellschaft abgestempelt und gedrängt werden, auf medizinische Massnahmen zu verzichten, weil sie denken, dass ihre Behandlung zu teuer für die Angehörigen wird oder sie selber in höchster Not keinen Ausweg mehr wissen», sagte Diakonie-Präsident Ulrich Lilie. Beihilfe zum Suizid dürfe keine Alternative zu einer aufwendigen Sterbebegleitung sein. Bereits vor dem Urteil hatte die Bundesärztekammer die bestehende gesetzliche Regelung verteidigt. Sie schütze vor «einer Normalisierung des Suizids», sagte Kammerpräsident Klaus Reinhardt den Zeitungen der Funke-Mediengruppe.
Quelle: Anna Schneider Berlin, NZZ 20200227 - 3